Die Frage, wovon die Stärke unserer Emotionen abhängt, beschäftigt uns jetzt weiter im zweiten Teil zum Fünften Lehrsatz von Spinoza.
Fortsetzung des Kapitels:
Über die Macht der Erkenntnis, oder die menschliche Freiheit
Fünfter Lehrsatz
Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns schlechthin vorstellen, also weder als notwendig noch als möglich noch als zufällig, ist, bei sonst gleichen Umständen, unter allen Affekten der stärkste.
In der modernen Psychologie wird die Qualität und Stärke von Gefühlen hauptsächlich mit den Kognitionen (Gedanken) üder den Gegenstand der Emotion in Zusammenhang gebracht. Das entspricht meist alltagspsychologischen Erkenntnissen: je bedeutsamer im positven wie auch im negativen Sinne etwas für eine Person ist, desto stärker sind seine Emotionen (bei allen Unterschieden zwischen einzelnen Menschen). Es geht dabei also um kognitive Bewertungen und Einschätzungen.
Spinoza ist bei der Frage nach der unterschiedlichen Intensität von Emotionen noch einen Schritt weiter gegangen. Er stellt die Emotion in einen Zusammenhang mit der jeweiligen Situation, in der sich jemand befindet und betrachtet diese Situation unter verschiedenen Gesichtspunkten, die alle unsere innere Vorstellungswelt betreffen. Dabei werden von ihm vier Variablen eingeführt:
1. Die Emotion entsteht aus einer freien Vorstellung heraus, wobei der Gegenstand der Emotion (das Ziel, auf das die Emotion gerichtet ist) nicht mit anderen Ursachen verküpft ist, sondern allein aus sich selbst heraus seine Wirkung ausübt. Diese Emotion ist von allen anderen (s.u.) die stärkste.
Beispiel: Wenn wir jemanden lieben oder hassen, dann ist unsere emotionale Reaktion auf diese Person – egal ob positiv oder negativ – umso stärker, je weniger diese Person von anderen Faktoren bestimmt wird, also je freier sie ist.
Dabei geht Spinoza auch auf den Begriff der „Freiheit“ ein. „Frei“ ist jemand nach seiner Sichtweise nur, wenn er sich der ihn bestimmenden oder „unfrei“ machenden Bedingungen bewußt ist. Der Begriff der Freiheit ist also ein relativer. Da jedoch die meisten Menschen in einem Zustand der Unfreiheit verharren, sie andererseits aber von uns als frei gesehen werden, täuschen wir uns vor allem in der Stärke unserer Gefühle ihnen gegenüber.
2. Die Emotion entsteht aus einer Notwendigkeit heraus, d.h. der Gegenstand der Emotion ist mit einer notwendigen Ursache verküpft. Die Intensität ist dann geringer als bei der freien Vorstellung, jedoch stärker als bei möglichen oder zufälligen Ursachen.
Beispiel: Wenn die Person, die wir lieben oder hassen, in andere Abhängigkeiten verstrickt ist, die ihre Handlungen als notwendig bestimmen, dann wird unsere Gefühlsintensität abnehmen. Sie ist aber immer noch stärker als bei den möglichen oder zufälligen Ursachen, denn:
„Sofern wir uns ein Ding als notwendig vorstellen, insofern bejahen wir seine Existenz. Umgekehrt verneinen wir die Existenz eines Dinges, sofern wir es uns als nicht notwendig vorstellen (…). Somit ist (…) der Affekt gegen ein notwendiges Ding, bei sonst gleichen Umständen, kräftiger als gegen ein nicht notwendiges.“
3. Die Emotion entsteht aus einer Möglichkeit heraus, d.h. der Gegenstand der Emotion ist mit einer möglichen Ursache verknüpft.
Beispiel: Wenn die Person, die wir lieben oder hassen, von möglichen Ursachen her bestimmt wird, dann ist die Intensität unserer Emotion geringer als bei einer „reinen“ Vorstellung (1.) oder der von einer Notwendigkeit bestimmten Vorstellung (2.).
4. Die Emotion entsteht aus einer Zufälligkeit heraus, d.h. der Gegenstand der Emotion ist mit einer zufälligen Ursache verknüpft.
Beispiel: Wenn die Person, die wir lieben oder hassen, von zufälligen Ursachen her bestimmt wird, dann ist die Intensität unserer Emotion geringer als bei einer „reinen“ Vorstellung (1.) oder der von einer Notwendigkeit bestimmten Vorstellung (2.) .
Die Intensität der Gefühle erfährt im Vergleich der möglichen mit der zufälligen Ursache keine relevante Änderung.
Im dritten Teil dieser Betrachtung über die Intensität der Gefühle werden wir eine Übung beschreiben, die Ihnen den Umgang mit Ihren Gefühlen (nach den Kategorien von Spinoza) Klarheit verschaffen und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigen soll.