„Eine romantische Liebe: André Breton und sein Roman ‚L’Amour Fou‘(Teil 2)

Die roman­ti­sche Lie­be zwi­schen André Bre­ton und einer schö­nen Unbe­kann­ten beginnt. Wir set­zen unser Expe­ri­ment einer Illus­tra­ti­on sei­nes Romans „L’A­mour Fou“ hier­mit fort. 

In Erwartung einer Frau – ihr Kommen oder ihr Nichtkommen

Bre­ton greift wie vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen auf das Magi­sche zurück; er ver­sucht, das Uner­war­te­te vor­aus­zu­se­hen, ja gera­de­zu her­bei­zu­ru­fen. Der Zufall ist auch immer ein Aus­druck sei­nes eige­nen Unbe­wuss­ten. Wie geht man mit einer ent­täusch­ten Erwar­tung um?

„An ande­ren Tagen, an denen ich wuss­te, daß die Abwe­sen­heit, die Fer­ne unüber­wind­lich waren, wur­den die Kar­ten befragt, ganz wider die Regeln, doch nach einem per­sön­li­chen unver­än­der­li­chen und ziem­lich genau­en Code, , um der­art für die Gegen­wart, für die Zukunft Heil und Unheil kla­rer zu erken­nen.“
„Bei der Befra­gungs­art, die ich damals bevor­zug­te und der auch heu­te noch mei­ne Vor­lie­be gilt, wer­den die Kar­ten von vorn­her­ein im Kreuz aus­ge­legt (in der Mit­te, was befragt wird: ich, sie, die Lie­be, die Gefahr, der Tod, das Geheim­nis, oben, was in der Schwe­be, rechts, was gewiß ist, links, was schreckt und scha­det, unten, was über­wun­den ist). Die Unge­duld bewirk­te, daß ich ange­sichts all­zu vie­ler aus­wei­chen­der Ant­wor­ten sehr bald dazu griff, in die Mit­te die­ser Figur einen sehr per­sön­li­chen Gegen­stand … zu pla­cie­ren, der mir bes­se­re Ergeb­nis­se her­bei­zu­füh­ren schien …“

L'Amour Fou Kartenkreuz

„Unter vol­ler Berück­sich­ti­gung der Wahr­schein­lich­keits­rech­nung und ob ich auch ein wenig zöge­re, ein sol­ches Zeug­nis vor­zu­brin­gen, ste­he ich doch nicht an, zu erklä­ren, daß, mit Hil­fe der Kar­ten, die­ser letzt­ge­nann­te Gegen­stand mich nie von etwas ande­rem als von mir unter­hal­ten, daß er mich stets auf den ent­schei­den­den Punkt mei­nes Lebens zurück­ge­führt hat.“

Das surreale Zusammentreffen von Ereignissen

Ken­nen wir nicht alle die­ses Gefühl oder erle­ben wir manch­mal eine Ahnung von Ereig­nis­sen, die zuein­an­der in einem Ver­hält­nis zu ste­hen schei­nen, die auf­ein­an­der ver­wei­sen und „irgend­wie zusam­men­pas­sen“? So ergeht es Bre­ton am 10. April 1934.

„Am 10. April 1934, bei vol­ler Bede­ckung der Venus durch den Mond …, aß ich in einem klei­nen Restau­rant zu Mit­tag.“
„Die Bedie­ne­rin ist recht hübsch: poe­tisch viel­mehr. Am 10. April vor­mit­tags trug sie über einem wei­ßen Kra­gen mit weit­ver­teil­ten roten Tup­fen, der vor­züg­lich zu ihrem schwar­zen Kleid paß­te, eine sehr dün­ne Ket­te, an der drei hel­le Trop­fen wie von Mond­stein hin­gen, unter denen sich ein eben­falls gefaß­ter Halb­mond aus dem glei­chen Stein abzeich­ne­te. Ich wür­dig­te wie­der ein­mal, unend­lich, das Zusam­men­tref­fen die­ses Schmuck­stücks und der erwähn­ten Verfinsterung.“

L'Amour Fou Kellnerin

Eine romantische Liebe: Die Begegnung und der erste Spaziergang

Nach­dem Bre­ton der schö­nen Unbe­kann­ten zunächst in einem Café begeg­net war, tref­fen sich die bei­den nun zu einem ers­ten Spa­zier­gang. Eine roman­ti­sche Lie­be nimmt ihren Verlauf.

„Wer beglei­tet mich zu die­ser Stun­de durch Paris, ohne mich zu gelei­ten, und dem auch ich kein Lei­ter bin? Ich kann mich nicht erin­nern, je im Leben eine sol­che Ohn­macht emp­fun­den zu haben. Fast ver­lie­re ich mich aus den Augen, mir ist, als wäre auch ich fort­ge­spült wor­den wie die Sta­tis­ten der ers­ten Sze­ne. Die Unter­hal­tung, die, solan­ge mei­ne all­zu schö­ne Part­ne­rin vor mir saß, ohne zu sto­cken von einem Gegen­stand zum andern über­ging, streift jetzt nur noch die Mas­ke der Din­ge. Mit Ent­set­zen mer­ke ich, daß ich das Gespräch wie­der Wil­len dahin len­ke, wo es im Künst­li­chen versandet.“

Romantische Liebe L'Amour Fou Erste Begegnung

Der morgige Tag am Turm Saint-Jacques

Eine roman­ti­sche Lie­be ist zu Beginn von unter­schied­li­chen Ängs­ten heim­ge­sucht. Gedan­ken über einen früh­zei­ti­gen Rück­zug stel­len sich ein.

„Der mor­gi­ge Tag bleibt Bestim­mun­gen unter­wor­fen, die man wohl oder übel aner­kannt hat, ohne die­se rei­zen­den Locken zu beden­ken, und die­se Knö­chel, die wie Locken sind. Noch wäre es Zeit, den Rück­zug anzu­tre­ten.“
„Wel­che Warn­vor­rich­tung wird je geeig­net sein, die Stim­me der Unver­nunft – dem Sprach­ge­brauch nach, den man mich gelehrt hat – laut genug zu erhe­ben, und zu behaup­ten, daß der mor­gi­ge Tag ein ande­rer sein wird, daß er sich auf geheim­nis­vol­le Wei­se ganz und gar von allem Ges­tern los­ge­ris­sen hat? Wie­der war ich neben dir, mei­ne wan­dern­de Schö­ne, und im Vor­über­gehn zeig­test du auf den Turm Saint-Jac­ques … Du wuss­test wohl, daß ich die­sen Turm lieb­te, aber mir war in jenem Augen­blick, ich sähe ein gan­zes wil­des Leben sich um ihn ver­sam­meln, als woll­te es uns in sei­ne Krei­se ziehn, uns mit­rei­ßen in den wol­ken­haft wir­beln­den Galopp um uns:

A Paris la Tour Saint-Jac­ques chan­ce­lan­te
Pareil­le à un tournesol

L'Amour Fou Saint-Jacques

„Ich über­las­se mich dem wun­der­ba­ren Tau­mel, zu dem viel­leicht die­se Stät­ten mich ver­füh­ren, an denen alles begon­nen hat, was ich am bes­ten gekannt haben wer­de.“
„Die Schat­ten tren­nen sich! Furcht­los will ich mich füh­ren las­sen, dem Licht zu! Tourne, sol… Dreh dich, Erde unter mei­nen Füßen, und du, gro­ße Nacht, ver­trei­be aus mei­nem Her­zen alles, was nicht der Glau­be an mei­nen neu­en Stern ist!“

Am Quai des Fleurs

Die roman­ti­sche Lie­be lebt von Anzei­chen einer über­höh­ten Idea­li­sie­rung. Ist es wirk­lich die­je­ni­ge, die dem Seh­nen einen Aus­weg bietet?

„Nie mehr viel­leicht wird der güns­ti­ge Wind sich legen, der uns dahin­trägt, denn von nun an haucht er Wohl­ge­rü­che, als stie­gen Gär­ten in Ter­ras­sen über uns auf. In der Tat sind wir auf dem Quai des Fleurs ange­langt,…“
„All die Blu­men, selbst die unschein­bars­ten unse­res Land­strichs, ver­ei­ni­gen nach Lust ihre Kraft, um mir die gan­ze Jugend des Gefühls ein­zu­hau­chen. Kla­rer Brun­nen, wo alles Ver­lan­gen, ein neu­es Wesen mit­zu­rei­ßen, sich spie­gelt und tränkt, alles Ver­lan­gen, zu zwei­en, weil dies noch nie­mals gelang, den Weg wie­der­auf­zu­neh­men, den man am Aus­gang der Kind­heit ver­lo­ren hat­te und der, die noch Unbe­kann­te, die Künf­ti­ge umduf­tend, zwi­schen den Wie­sen hin­lief. Bist du end­lich die­je­ni­ge, war dei­ne Ankunft auf­ge­scho­ben bis heute?“

Andre Breton Quai des Fleurs Paris

„Wäh­rend man, wie im Trau­me, immer ande­re Bee­te vor uns hin­brei­tet, beugst du dich lan­ge über die­se ver­schat­te­ten Blu­men, als woll­test du weni­ger ihren Duft ein­zie­hen als ihnen ihr Geheim­nis rau­ben, und eine sol­che Gebär­de ist, für sich allein, die ergrei­fends­te Ant­wort, die du auf die­se Fra­ge geben könn­test, die ich dir nicht stel­le.“
„Hier nimmt alles einen neu­en Anfang, hier mel­den sich – und Schwei­gen ist gebo­ten – zu vie­le Grün­de, alle Zei­ten des Ver­bums „sein“ in dem Bericht zu ver­wen­den. Eines Tages wahr­schein­lich wer­de ich mich dazu bereit­fin­den, wenn es dar­um geht, wie ich vor­ha­be, zu erwei­sen, daß die wah­re Lie­be kei­ner nen­nens­wer­ten Ver­än­de­rung in der zeit unter­wor­fen ist. Nur die mehr oder min­der resi­gnier­te Anpas­sung an die augen­blick­li­chen sozia­len Ver­hält­nis­se bewirkt, daß wir uns bereit­fin­den, in der Phan­tas­ma­go­rie der Lie­be eine Fol­ge der unvoll­kom­me­nen Kennt­nis zu sehen, die wir von dem gelieb­ten Wesen besit­zen, womit zugleich gesagt sein soll, daß die­ser Traum ent­schwin­de, sobald jenes Wesen sich uns nicht mehr ent­zieht.“
„Die­ser Glau­be an den in sol­chen Fäl­len bal­di­gen Abfall des Geis­tes in allem, was die Tätig­keit sei­ner höchs­ten und sel­tens­ten Kräf­te betrifft, geht frei­lich meist auf Rech­nung eines ata­vis­ti­schen Rück­stands sei­ner reli­giö­sen Erzie­hung, die dar­über wacht, daß der Mensch stets bereit sei, den Besitz der Wahr­heit und des Glü­ckes hin­aus­zu­schie­ben, und die jedes ver­lan­gen nach einer inte­gra­len Erfül­lung sei­ner Wün­sche auf ein trü­ge­ri­sches Jen­seits ver­trös­tet, das sich übri­gens, nach nähe­rer Erkun­di­gung, wie man sehr gut gesagt hat, als ein ver­küm­mer­tes Dies­seits erweist.“

Eine romantische Liebe: Das Gedicht „Tournesol“

„Es han­delt sich, im vor­lie­gen­den Fall, um ein auto­ma­ti­sches Gedicht: ganz ein ers­ter Wurf oder doch annä­hernd das, was 1923 dafür gel­ten konn­te, als ich es in dem Band „Clair de Terre“ auf­nahm. So viel ich auch dar­an aus­zu­set­zen fand, so sehr ich es auch nach­träg­lich ins­ge­heim viel­leicht ver­leug­net hat­te, so sehe ich doch kei­ne Mög­lich­keit, von den unwill­kür­li­chen, abge­ris­se­nen Zita­ten, die mir plötz­lich dar­aus ein­fie­len, anders zu spre­chen als von jenen Sät­zen im Ein­schla­fen, von denen ich mich 1924 bewo­gen fühl­te, in dem „Mani­fest des Sur­rea­lis­mus“ zu sagen, daß sie „an die Schei­be poch­ten“.
„So sah ich mich denn, wenn auch erst gegen Abend, ver­an­lasst, in einem mei­ner Bücher jene Sei­ten auf­zu­schla­gen, wo sie, wie ich wuss­te, zu fin­den waren. Die­ses Zuge­ständ­nis an alles, was ich bis dahin nicht wis­sen woll­te, wur­de zu einer unun­ter­bro­che­nen Ket­te blitz­ar­ti­ger Entdeckungen:

[Sie fin­den das Gedicht „Tour­ne­sol“ im lin­ken Bereich neben dem Haupt­text in fran­zö­si­scher Spra­che und in deut­scher Übersetzung]

Die Entdeckung

Bre­ton ent­deckt beim nach­träg­li­chen Lesen sei­nes eige­nen Gedich­tes, das er 1923 geschrie­ben hat, ein mys­te­riö­ses Zusam­men­tref­fen mit den Ereig­nis­sen zehn Jah­re spä­ter, als er die jun­ge Frau, um die es hier geht, kennenlernt:

La voy­a­ge­u­se mar­chant sur la poin­te des pieds: Es ist unmög­lich, in die­ser Rei­sen­den nicht mei­ne in jenem Augen­blick sehr schweig­sa­me Beglei­te­rin vom 29. Mai 1934 wiederzuerkennen.“

Le dése­spoir: Etwas unsi­cher füh­le ich mich ange­sichts der sexu­el­len Bedeu­tung … der Hand­ta­sche, die, obwohl sie sich hin­ter Wahn­vor­stel­lun­gen der Grö­ße – die Ster­ne, die „Gevat­te­rin Got­te (?) – ver­steckt, nichts­des­to­we­ni­ger offen zuta­ge liegt.“

L'Amour Fou Tournesol Handtasche

Le Chien qui fume: Das war für mich der typi­sche Name eines jener Restau­rants der Markt­hal­len, von dem schon die Rede war.“
„Was bis zu jenem Tage mit mir gesche­hen war, wehr­te sich – ich glau­be dies genü­gend ver­deut­licht zu haben – gegen das, was noch gesche­hen konn­te. Die Bequem­lich­kei­ten des nächs­ten Tages, so wie er im vor­aus fest­ge­legt war, der Wunsch, ich möch­te nicht genö­tigt sein, das unta­de­li­ge Wesen zu krän­ken, das mein Leben damals mit mir teil­te, dazu die­ser neue Reiz, die unwi­der­steh­li­che Anzie­hung der ich erlag (le pour et le cont­re) – dies alles hielt mich in einem qual­vol­len Zustand der Unent­schlos­sen­heit fest.“

L'Amour Fou Les Halles

L'Amour Fou Restaurant

„Le bal des inno­cents: Wir nähern uns ganz offen­sicht­lich dem Turm Saint-Jac­ques. Der ehe­ma­li­ge Kirch­hof, der spä­ter in einen Markt umge­wan­delt wur­de und an den eigent­lich nur noch der Brun­nen in der Mit­te des gleich­na­mi­gen Plat­zes (Squa­re des Inno­cents) erin­nert, mit den Naja­den von Jean Gou­jon … dient hier dazu, Nico­las Fla­mel ein­zu­füh­ren, der dort am Aus­gang des vier­zehn­ten Jahr­hun­derts den berühm­ten Schwib­bo­gen mit sei­nen Initia­len errich­ten ließ (auf die­sem Bogen hat­te er bekannt­lich einen ganz schwar­zen Mann malen las­sen, der einer gol­de­nen Tafel zuge­wandt war, auf wel­cher Venus oder Mer­kur sowie eine Son­nen- und Mond­fins­ter­nis dar­ge­stellt waren; die­ser Mann hielt in sei­ner aus­ge­streck­ten Hand eine Rol­le mit der Inschrift: Je vois mer­veil­le dont moult mès­bahis - (Ein Wun­der schau ich, das mich hoch erstaunt).

L'Amour Fou Saint-Jacques

L'Amour Fou Nicolas Flamel4

Der drit­te Teil folgt in Kür­ze. Hier lesen Sie mehr zum The­ma „Lie­be, Lie­bes­fä­hig­keit, Angst und Sexualität“

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