Folgen der Pandemie
Die Corona-Krise hat umfassende Folgen für das konkrete Miteinander der Menschen untereinander und der Aufrechterhaltung einer prosperierenden Wirtschaft. Aber auch innerpsychische Folgen für den Einzelnen und Auswirkungen auf seine psychische Stabilität sind zu beklagen. Diese Folgen der Pandemie werden überall wahrgenommen und auch diskutiert – so sind in der Stadt und in den U‑Bahnhöfen (ich kann es aus Berlin bestätigen) immer häufiger Plakate von Hilfsorganisationen zu sehen, die ein psychologisches Beratungsangebot machen, um Menschen in der (Corona-)Krise zu unterstützen. Dies ist natürlich zu begrüßen und noch ausbaufähig.
Strafen
Auf der anderen Seite gibt es aber psychische Folgen der Pandemie, die an der Oberfläche zunächst einen widersprüchlichen Eindruck hinterlassen und eine zwiegespaltene Reaktion hervorrufen: ich spreche hier die Diskussion um die Einführung von Strafen oder weiteren Beschränkungen an, die damit begründet werden, dass eine (zunehmende) Gruppe von Menschen die empfohlenen oder auch verpflichteten Corona-Regeln ablehnen.
Beispiele neuer Einschränkungen
Als Beispiel sei angeführt, dass es in Berlin seit kurzem eine Diskussion darüber gibt, ob nicht Alkoholverbote eingeführt werden sollten, um der Gefahr, die durch Feiern und Partys junger Menschen entstehen könnte, vorzubeugen. Ein anderes Beispiel, dass noch sehr viel weiter geht, ist die Anordnung, dass Kinder, die zu Hause in Quarantäne bleiben müssen, von ihren Eltern Abstand halten sollen. Falls dem nicht Folge geleistet würde, müsste man die Kinder vorübergehend der Obhut ihrer Eltern entziehen und sie woanders unterbringen. Man kann sich vorstellen, welche Reaktionen solche Vorschläge in der Öffentlichkeit hervorrufen.
Versuchung – Versagung
Trotzdem ist all dies zunächst nachvollziehbar. Jedoch wird damit nicht erklärt, dass immer mehr Menschen auf Dauer verunsichert und ablehnend reagieren, es ei denn, man nimmt hier einen Wirkungszusammenhang an, der einseitig als Reaktion auf diese Maßregelungen verstanden wird. Meines Erachtens wird aber dabei verdrängt, dass die Ankündigung solcher Strafen auch einen anderen als einen rationalen Hintergrund hat.
Um dies zu verstehen, möchte ich den Begriff der „Versuchungs-Versagens-Situation“ aus der psychoanalytischen Theorie einführen. Eine solche Situation ensteht immer dann, wenn ein Mensch auf der einen Seite Wünsche und Bedürfnisse hat, diese aber gleichzeitig auf der anderen Seite nicht befriedigt werden dürfen, weil ein Verbot und eine Strafandrohung bei Überschreiten dieses Verbotes verinnerlicht wurde. Die ursprüngliche Quelle dieses Verbotes liegt immer im Außen; dies ist der betroffenen Person aber nicht bewusst. Sie handelt dann gleichsam mit vorauseilendem Gehorsam: nachdem sie erst in Versuchung geraten ist, versagt sie sich die Befriedigung ihres Wunsches. Aus dieser Dynamik heraus entwickelt sich langsam im Laufe der Zeit eine immer quälendere Frustration, die mit unterdrückten Aggressionen einhergeht. Als „Lösung“ dieses Konfliktes sucht sich dann diese Person Ziele im Außen, an denen es seine Frustration abreagieren kann. Es handelt sich um einen weit verbreiteten Mechanismus. Natürlich kann eine wirkliche Lösung nur darin bestehen, sich diesen Konflikt bewusst zu machen, die ursprüngliche Quelle der Triebversagung zu identifizieren und dann eine eigene Haltung dazu zu entwickeln.
Die Entscheidungsträger
Zurück zu unserem Thema: ich denke, dass sehr viele Personen, die in Zusammenhang mit der Corona-Krise in Entscheidungspositionen sitzen – also Angestellte in den Gesundheitsämtern, Politiker, Ärzte usw. – jetzt die Gelegenheit haben, ihren eigenen Frustrations- und Aggressionsdruck zu lindern, indem sie unüberlegt und – siehe oben – unbewusst, solche weitgehenden und in den Persönlichkeitsbereich des Einzelnen eindringenden Vorschläge in die Welt bringen. An ihrer Stelle wird nun nämlich der „böse Coronaverweigerer“ bestraft und muss seine „Autonomiewünsche“ unterdrücken. Damit entsteht eine vorübergehende Entlastung für die bestrafende Instanz, da der eigentliche eigene, innere Konflikt nach Außen verlagert werden konnte.Die Gefahr ist, dass sich diese Dynamik immer mehr verselbständigt und die „Entscheider“ auf der einen und die „Betroffenen“ auf der anderen Seite sich immer mehr gegenseitig hochschaukeln. Hier liegt auch eine Erklärung für das sich immer stärker entwickelnde Protestpotenzial in der Bevölkerung. Es reagiert also „Unbewusstes“ auf „Unbewusstes“. Dieser Entwicklung kann nur vorgebeugt werden, indem solche psychologischen Zusammenhänge offen angesprochen und in der Öffentlichkeit ausdiskutiert werden. Man denke zum Beispiel an einen „Runden Tisch“, der sich aus Entscheidungsträgern/innen und Bürgern/innen zusammensetzt. Dann könnten gemeinsam Maßnahmen entwickelt werden, denen mehr oder weniger alle auch zustimmen können. Wichtig dabei wäre, solche Maßnahmen sehr konkret zu artikulieren, sie klar auf ganz bestimmte Situationen zu beziehen und sie vor allem zeitlich vorab klar einzugrenzen.