„Ekstase und Übung“

„Die Aus­schwei­fung führt zum Palast der Weis­heit“. Wil­liam Bla­ke. (orig.  The road of excess leads to the palace of wis­dom.)
„Übung macht den Meis­ter“. Deut­sches Sprich­wort.

Im Leben stellt sich immer wie­der die Fra­ge – und dies von uns selbst aus­ge­hend, oder von Außen an uns her­an­ge­tra­gen – wel­chen Prin­zi­pi­en für unse­re Lebens­füh­rung wir fol­gen wol­len. Mir ist natür­lich bewusst, dass es hier­zu eine Unzahl von Ant­wor­ten gibt, die mehr oder weni­ger gut oder schlecht zur Pro­blem­lö­sung bei­tra­gen. Des­we­gen möch­te ich auch die fol­gen­de Über­le­gung eher als ein per­sön­li­ches Her­an­tas­ten an etwas Gewinn­brin­gen­des – was die Lösung der Auf­ga­be betrifft – ver­stan­den wissen. 

Zunächst ein­mal machen wir uns klar, dass für alle Erschei­nun­gen das Pola­ri­täts­ge­setz gilt. Die­se Grund­an­nah­me neh­me ich als ein Axi­om zum Aus­gangs­punkt mei­ner The­se: jedes Ding kann nur inso­weit exis­tie­ren, als es auch sein Gegen­teil geben muss. Ob wir nun „von weit oder nah“, von „oben oder unten“, von „schwer oder leicht“ spre­chen; oder ob wir in Bezug auf unse­re Gefüh­le von „trau­rig oder fröh­lich“, von „Ver­ge­bung oder Hass“ oder von „Lie­be oder Angst“ spre­chen, immer erscheint uns das Leben in Form von Gegen­sät­zen. Und mit die­sen Gegen­sät­zen müs­sen wir ler­nen zu leben, meist dadurch, dass wir ver­su­chen Gegen­sät­ze zu „inte­grie­ren“, das heißt ein „Ent­we­der-Oder“ zu einem „Sowohl-Als auch“ zu machen. Nur wenn ich erfah­ren habe, was Schmerz bedeu­tet, kann ich das Glück wirk­lich genie­ßen. Es ist also ein Irr­tum, nach immer­wäh­ren­dem Glück zu stre­ben, was uns vie­le Ideo­lo­gien und Reli­gio­nen weis machen wollen.

Zurück zu unse­rer Aus­gangs­fra­ge: der Fra­ge nach den guten Lebens­prin­zi­pi­en. Die Ant­wort muss also vor dem Hin­ter­grund des oben Aus­ge­führ­ten auch eine Pola­ri­tät sein. Doch wel­che? Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, habe ich ver­sucht, mei­ne lang­jäh­ri­gen Erfah­run­gen als Psy­cho­the­ra­peut her­an­zu­zie­hen, indem ich mir über­legt habe, ob es nicht für alle Hil­fe­su­chen­den, die zu mir in die Pra­xis gekom­men sind, einen gemein­sa­men Nen­ner geben könn­te. Die­se Annah­me erscheint auf den ers­ten Blick zunächst mehr als frag­lich, da doch davon aus­ge­gan­gen wer­den muss, dass alle Men­schen Indi­vi­du­en sind, die eben nur vor dem Hin­ter­grund ihrer ganz per­sön­li­chen Struk­tur und Erfah­rung ver­stan­den wer­den kön­nen. Und das ist auch so. Trotz­dem hat sich im Lau­fe der Zeit für mich eine Kern­pro­ble­ma­tik her­aus­kris­tal­li­siert, die mei­nes Erach­tens für alle gel­ten, sagen wir: mehr oder weniger.

Die­se zen­tra­le Pro­ble­ma­tik, die gleich­sam vor den Hin­ter­grund für all die ver­schie­de­nen Pro­ble­me der Ein­zel­per­so­nen gül­tig sein könn­te, betref­fen die Fra­gen danach, wie ich es mit der Anstren­gung hal­te, die das Leben mit sich bringt. Soll ich mich anstren­gen? Wenn ja, wofür? Will ich nicht lie­ber ent­span­nen und mich dem schö­nen Nichts­tun wid­men? Wie schaf­fe ich es, all die Erwar­tun­gen zu erfül­len, die ich an mich selbst rich­te und die von Außen an mich gerich­tet wer­den? Jede die­ser Fra­gen beschäf­tigt sich mit dem The­ma „Anstren­gung“. Wenn wir nun also einen Schritt gedank­lich zurück­ge­hen, dann müs­sen wir die Fra­ge nach der Pola­ri­tät stel­len, die hier zur Gel­tung kommt. 

Die­se Pola­ri­tät könn­te lau­ten: „Eksta­se“ ver­sus „Übung“.

War­um Eksta­se, war­um Übung? Die Eksta­se beschreibt einen Zustand, in dem wir uns voll­kom­men frei­ma­chen von irgend­wel­chen Kor­setts, in die wir ein­ge­schlos­sen sind. Wir über­schrei­ten Gren­zen, geben uns ganz hin und wol­len uns gera­de­zu ver­lie­ren im Hier und Jetzt. Es ist also nicht die Ent­span­nung oder der Genuss, der den einen Pol die­ses Gegen­satz­paa­res bil­det: das wäre zu schwach for­mu­liert. Denn das Sich Ent­span­nen und Genie­ßen kann auch schnell im Diens­te des Erwart­ba­ren ste­hen. Auf der ande­ren Sei­te steht dann auch nicht die Pflicht­er­fül­lung oder das „Müs­sen“, son­dern die „Übung“. Und dies vor allem des­we­gen, weil nur die Übung garan­tie­ren kann, dass wir uns wei­ter­ent­wi­ckeln und für eine Sache ent­schei­den kön­nen. Das Üben kann uns dahin brin­gen, wo wir wirk­lich selbst hin wol­len. Und sie führt dazu, dass wir eine Sache auch wirk­lich durch­drin­gen und uns ganz mit ihr iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Bei­de Pole sind mit Anstren­gung ver­bun­den, aber die­se erscheint nun in einem gänz­lich ande­ren Licht: wir haben plötz­lich die Wahl zwi­schen zwei Polen, die bei­de nutz­brin­gend sind und uns hel­fen, die bei­den grund­le­gen­den Aspek­te unse­res Seins auch zu leben.

Die Eksta­se und die Übung sind also die bei­den Pole, zwi­schen denen sich ein Mensch hin- und her­be­wegt. Wenn er die Extre­me lebt, kann er auch die Zwi­schen­schrit­te fin­den. Bei­de Zustän­de sind seit jeher Teil der mensch­li­chen Natur: der Rausch, im Ritu­al erlangt, wird zur Befrei­ung vom Not­wen­di­gen; die Übung, kon­se­quent ange­wandt, wird zur Befrei­ung vom Mög­li­chen – denn dass alles mög­lich sein könn­te, lähmt und mani­pu­liert uns eben auch. Lei­der haben bei­de Begrif­fe heut­zu­ta­ge nega­ti­ve Kon­no­ta­tio­nen. Die Ekta­se wird mora­lisch abge­ur­teilt, weil sie den Men­schen „aus der Form wirft“ und er dann den heu­ti­gen Kon­sum­er­war­tun­gen und einer „Poli­ti­cal Cor­rect­ness“ nicht mehr ent­spricht. Das Üben ist oft nega­tiv besetzt, weil es fälsch­li­cher­wei­se mit schu­li­schem Gehor­sam gleich­ge­setzt wird. Üben ist hier aber als ein Ver­hal­ten gemeint, das bewusst und frei gewählt und auf­recht erhal­ten wird. Da, wo bei­de Sei­ten (Pole)  zusam­men­kom­men, zei­gen uns die Über­lie­fe­run­gen von Natur­völ­kern, die im Tanz und im Rausch­zu­stand (Eksta­se) ganz bestimm­te, sich wie­der­ho­len­de Ver­hal­tens­wei­sen (Übun­gen) anwen­den, um dadurch zumin­dest vor­über­ge­hend eine Ein­heit zu errei­chen. Auch wenn dies durch den „Fort­schritt“ der Kul­tu­ren nicht mehr mög­lich ist, so kön­nen wir trotz­dem das dahin­ter lie­gen­de Prin­zip erken­nen und uns so zu eigen machen, dass wir Schlupf­lö­cher in unse­rer durch­ge­styl­ten Welt finden.

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