Unsere neue Beitragsserie beschäftigt sich mit der Herausforderung, sich selbst in seiner Persönlichkeit weiterzuentwickeln – und dies anhand von praktischen Übungen, die man selbständig durchführen und jeweils für ganz bestimmte Ziele einsetzen kann. Der Vorteil liegt auf der Hand: man kann sich für die einzelnen Übungen selbst die Zeit und den Raum aussuchen; man ist auf keinen externen Coach, Berater oder Therapeuten angewiesen; und das Wichtigste: alle Übungen sind praxisbezogen und werden durch das eigene Erleben überprüfbar und „nachhaltig“. Schließlich: jede Übung wird von den dazugehörigen theoretischen Überlegungen und Erkenntnissen begleitet, so dass sie auch sinnhaft nachvollzogen werden kann.
Die allgemeine Theorie, auf der die Übungen aufgebaut sind *, ist die Theorie der Gestalttherapie, Die Gestalttherapie wurde von Fritz und Lore Perls Mitte der 40er Jahre gegründet und beruht auf Erkenntnissen der Psychoanalyse, der Humanistischen Psychologie, der Gestaltpsychologie u.a. Was ihre zentralen Aussagen sind, wird dem Übenden bei der Durchführung der Aufgaben durch die von ihm unmittelbar gemachten Erfahrungen und die Zuordnung im Theorieteil nahegebracht.
Achtsam sein in der Gegenwart – Übung #1
Bereiten Sie sich wie üblich auf die Übung vor. Achten Sie darauf, dass Sie an einem ruhigen Ort ungestört sind. Legen Sie sich einen Schreibblock und einen Stift zurecht. Dann beginnen Sie mit der Übung:
Versuchen Sie ein paar Minuten lang sprechenderweise Sätze zu bilden, die sagen, wessen Sie in diesem Augenblick gewahr sind. Fangen Sie jeden Satz mit den Worten „jetzt“, „in diesem Augenblick“ oder „hier und jetzt“ an.
Lesen Sie sich nach der Übung den theoretischen Teil durch und beantworten Sie die Fragen, am besten schriftlich mit Ihrem Block.
Theoretischer Hintergrund
Diese Übung – so trivial sie auf den ersten Blick auch erscheinen mag – könnte man auch als „Grundübung“ der Gestalttherapie bezeichnen. Für unsere Zwecke ist sie ebenfalls der zentrale Ausgangspunkt, befasst sie sich denn auch mit dem existentiellen Thema der Vergänglichkeit, dem Fluss des Lebens und dem Stellenwert, den wir der Vergangenheit und der Zukunft geben: Rigides Festhalten und Planen steht im Gegensatz zu einer offenen Haltung in Bezug auf Neues bei angemessener Risikobereitschaft.
Beim Wiederholen dieser Übung achten Sie insbesondere auf Ihre Widerstände gegen das Verbleiben im „Hier und Jetzt“, also mit der Übung fortzufahren:
- In welchem Moment haben Sie aufgehört? Was haben Sie dabei empfunden (Ärger, Langeweile, Angst, Misstrauen, Gleichgültigkeit, kein Gewahrsein des Abbrechens etc.)?
- Versuchen Sie, das Auftreten des Widerstandes genau zu beschreiben. Das, was das Erleben gedrosselt hat, ruft am meisten Angst hervor. Diese Angst tarnt sich meist als Ärger, Langeweile oder Unruhe.
Weitere Fragen:
Möchten Sie vielleicht der gegenwärtigen Erfahrung gar nicht nahekommen (d.h. lieber im „Gewohnten“ verharren)?
Ist die Gegenwart vielleicht demütigend, weil glanzlos und trivial?
Sind Sie von der Übung vielleicht begeistert und erzählen davon, wenden sie aber selbst gar nicht an?
Haben Sie vielleicht zu den Instruktionen eigene hinzugefügt (z.B. das Suchen nach „fehlenden Dingen“ im Erleben)?
Gibt es Gewahrseinszonen, die vom Gewahrsein (fast) ausgeschlossen sind (z.B. inneres oder äußeres Erleben, bestimmte Sinneskanäle)?
Welcher Kummer, Skrupel, welche Dankbarkeit oder Entschuldigung in der Gegenwart sind vorhanden, die Sie die Zukunft vorwegnehmen lassen?
* Die Übungen beruhen auf dem 2. Teil von „Gestalt-Therapie“ (Titel: „Wiederbelebung des Selbst“) von Perls, Hefferline, Goodman, Konzepte der Humanwissenschaften, Klett-Cotta, 3. Auflage 1985 (Original erschienen 1951, The Julian Press, N.Y.)