Input (Lesen zur Vorbereitung auf die Übung *: „Spüren von Gegenkräften“)
Der Mensch ist ein soziales bzw. „Kontaktwesen“. Alle seine Sinne dienen dazu, mit der Umwelt zu kommunizieren, sie wahrzunehmen und sie zu bewerten. Wenn wir von dieser Prämisse ausgehen, dann können wir auch gleichzeitig feststellen, dass alle „Probleme“, die ein Mensch hat, letztendlich etwas mit der Art und Weise zu tun haben, wie er mit der Umwelt Kontakt aufnimmt: Ich bin traurig ÜBER etwas; ich fürchte mich VOR jemandem; ich bin niedergeschlagen, WEIL ich mich machtlos fühle. Und machtlos fühlt man sich, wenn man sich so erlebt, als ob man keine Wirkungsmacht hätte.
Die Qualität der Kontaktaufnahme zur Umgebung ist also entscheidend für das Wohlbefinden eines Organismus. Wir sprechen hier allgemein vom „Organismus“, weil der hier beschriebene Wirkungszusammenhang nicht nur für den Menschen, sondern für alle Arten von Organismen zutrifft. Ist der Kontakt zur Umwelt gestört, leidet der Organismus. Beim Menschen sprechen wir dann von einem „Konflikt“. Oder wir formulieren es so: der gestörte Kontakt zur Umwelt kann auf ein gestörtes Gleichgewicht im Organismus-Umwelt-Feld zurückgeführt werden.
Was sind nun die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung eines gesunden Gleichgewichtes im Organismus-Umwelt-Feld?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zwei Gesetzmäßigkeiten anschauen. Die erste kennen wir schon aus unserem Blog-Beitrag … (Spinoza), das Polaritätsprinzip. Dieses übt seinen Einfluss auf das Organismus-Umwelt-Feld aus, indem es Unterschiede einführt, die dadurch hervorgerufen werden, dass es zu fast allen Dingen immer auch sein Gegenteil gibt. Wir können dazu auch Beispiele aus der Physik anführen: ein Fahrstuhl kann nur nach unten fahren, wenn es auch ein nach oben fahren gibt; oder aus der Chemie, wenn wir mit einer Waage etwas messen wollen. Ohne Unterschiede können wir keine Änderungen im Gleichgewicht wahrnehmen. Dies führt uns zum zweiten Gesetz aus der Wahrnehmungspsychologie bzw. der Gestaltpsychologie, das der Figur-Grund-Wahrnehmung. Viele von Ihnen kennen vielleicht dieses Bild, das zum einen eine Vase und zum anderen zwei Gesichter zeigt – je nachdem was von beiden entweder im Vordergrund oder im Hintergrund wahrgenommen wird:
Ein gesundes Organismus-Umwelt-Feld entsteht dann, wenn sowohl eine Dynamik zwischen den Polen entsteht und wenn Vorder- und Hintergrund unterschieden werden können.
Was bedeutet das nun für den Menschen und seinen Kontakt mit der Umwelt?
Nehmen wir als Beispiel eine Polarität, die im zwischenmenschlichen Bereich immer eine sehr wichtige Rolle spielt: die Polarität in Bezug auf den Wunsch nach Autonomie einerseits und auf der anderen Seite den nach Bindung bzw. Nähe. Vielfältige Konflikte können entstehen, wenn hier eine Seite überbetont wird oder „festgefahren“ erscheint; oder wenn die eine Seite als „schlecht“ und die andere als „gut“ bewertet wird. Außerdem spielt sich ein solcher Konflikt immer vor einem bestimmten Hintergrund ab: das Verhalten, was im Vordergrund sichtbar ist (z.B,. „abhängiges Verhalten“), wird im Hintergrund durch erlittene Traumata oder rigide Überzeugungen aufrechterhalten. Nur wenn der Hintergrund auch in den Vordergrund treten darf – wenn wir uns also die „dahinter“ liegenden Ängste bewusst machen – und wenn beide Pole gleichwertig und dynamisch betrachtet werden können, wird es zu einem gesunden Organismus-Umwelt-Feld kommen. In einer Beziehung können dann beide Seiten sowohl ihre Bindungs- als auch ihre Autonomiewünsche leben.
Woran erkennt man nun ein gesundes Organismus-Umwelt-Feld, was sind seine Bedingungen?
Dazu die folgende Übung:
ÜBUNG: „Spüren von Gegenkräften“
Denken Sie sich einige Gegensatzpaare, in denen es beide Teile nicht geben könnte ohne die wirkliche oder angenommene Existenz ihres Gegenteils. Schreiben Sie die Gegensatzpaare auf und prüfen Sie danach die folgenden Fragen.
- Welche Unterschiede haben Sie beim Auffinden der Gegensatzpaare festgestellt?
- Gab es Gegensätze, die eigentlich keine sind, bzw. nur in einem bestimmten Kontext?
- Gab es Gegensätze mit einer „mittleren Position“ (z.B. Anfang – Mitte – Ende)? Bei dieser Art von Gegensätzen gibt es einen neutralen Null- bzw. Indifferenzpunkt.
- Wie sieht es mit den Gegenkräften aus, die jeweils ein Pol auf den anderen ausübt? Beispiel von unterschiedlichen Gegenkräften: 1. Ein Flugzeug auf einem Flugzeugträger kurz vor dem Abheben. Hier besteht der Gegensatz nicht zwischen Vorwärts und Rückwärts sondern zwischen Starten und Nicht-Starten. 2. Ein Beispiel für einen Vorwärts-Rückwärts-Konflikt wäre ein Schiff, das zu schnell auf seinen Anlegeplatz zuläuft und zurückschalten muss.
- Versuchen Sie, die Beispiele aus der Physik auf zwischenmenschliche Konflikte zu übertragen. Welcher Vorwärts-Rückwärts-Konflikt fällt Ihnen in diesem Zusammenhang ein?
* Die Übungen beruhen auf dem 2. Teil von „Gestalt-Therapie“ (Titel: „Wiederbelebung des Selbst“) von Perls, Hefferline, Goodman, Konzepte der Humanwissenschaften, Klett-Cotta, 3. Auflage 1985 (Original erschienen 1951, The Julian Press, N.Y.)