Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass in vielen Talkshows oder Interviews darauf hingewiesen wird, welche große Chance doch in der gegenwärtigen Corona-Krise verborgen sein könnte – nämlich die Zeit in der Isolation dazu zu nutzen, kreativ zu sein? Oder sogar erst recht kreativ zu sein, weil man ja „vor der Krise“ gar nicht die Möglichkeit gehabt habe; man war vielleicht zu sehr abgelenkt oder einfach gefangen in seinem Alltagstrott? Es werden dann Beispiele aufgeboten, z.B. von Künstlern, die jetzt neue Songs schreiben, Bands, die im homeoffice ein Konzert geben, Eltern, die sich Spiele für ihre Kinder ausdenken und Lehrer, die jetzt tolle Aufgaben für ihre Schüler erstellen sollen. Dagegen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil kann das ja für den einzelnen eine Hilfe darstellen im Umgang mit der ungewohnten sozialen Abschottung und dem Fehlen des gewohnten Tagesablaufs. Aber gibt es nicht vielleicht doch auch eine Schattenseite?
Ich selbst fühle mich nämlich auch ein wenig an unsere „Vor-Corona-Normalität“ erinnert, in der es ja ebenfalls ständig darauf ankam, sich selbst zu beweisen, sich zu optimieren und nicht darin nachzulassen, sich im Wettbewerb mit anderen zu messen. Es fällt offenbar vielen schwer, einfach einmal die Lage zu akzeptieren und anzuerkennen, dass wir nur wenig im Leben unter Kontrolle haben. Im Grunde wussten wir das auch schon immer – aber es gehörte zum Tagesgeschäft, diese existentielle Einsicht lieber zu verdrängen.
Vor diesem Hintergrund habe ich so meine Zweifel, ob nun ausgerechnet jetzt die Kreativität „dran“ ist – im Sinne einer Erwartung, die man erfüllen muss. Vielleicht ist es ja am kreativsten, sich von dem Zwang, kreativ sein zu müssen, zu befreien – und einfach mal der Sache ins Auge zu schauen, das Notwendige tun und abzuwarten, bis alles vorbei ist. Nach der Krise ist vor der Krise.