Wir beschäftigen uns mit der Frage, worauf die Stärke von Emotionen zurückzuführen ist und welche Konsequenzen dies für unser Verhalten hat.
Fortsetzung des Kapitels:
Über die Macht der Erkenntnis, oder die menschliche Freiheit
Fünfter Lehrsatz
Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns schlechthin vorstellen, also weder als notwendig noch als möglich noch als zufällig, ist, bei sonst gleichen Umständen, unter allen Affekten der stärkste.
In seinem fünften Lehrsatz setzt sich Spinoza mit dem Problem auseinander, dass Emotionen nicht allein aus sich selbst heraus zu verstehen sind, sondern bestimmten Abhängigkeiten unterliegen. Diese Fragestellung ist insofern äußerst zeitgemäß, als die moderne Psychologie noch keine wirkliche Antwort auf die Tatsache gefunden hat, dass Emotionen bei verschiedenen Individuen sehr unterschielich ausfallen können und auch innerhalb eines Individuums je nach Situation und Bewertung der Situation varieeren können. Dies stellt eine schwierige Hürde in der experimentellen Erforschung dieser Phänomene dar.
Es gibt in der Neuropsychologie allerdings die von vielen geteilte Annahme, dass Emotionen zwar einerseits angeboren sind, zum anderen aber von der jeweiligen Lerngeschichte einer Person abhängen. Diese Lerngeschichte ist einerseits als individuell zu betrachten, anderseits aber auch kulturellen Festlegungen unterworfen. Interessant ist dabei auch die unterschiedliche Wortwahl für bestimmte Emotionen: was wir als „Traurigkeit“ bezeichnen kann in einer anderen Kultur völlig anders beschrieben werden; in der tahitischen Kultur kommt diesem Gefühl am ehesten die Beschreibung „die Art von Müdigkeit, die du fühlst, wenn du erkältet bist“ nah. So spricht man heute auch von „emotionalen Konzepten“, die gelernt werden.
Wenn wir also von gelernten „Emotionskonzepten“ sprechen, dann können wir auch die Annahme unterstützen, dass wir in der Lage sind, neue Konzepte in der Gegenwart zu entwickeln, um uns für die Zukunft beim Umgang mit und bei der Einschätzung von unseren Gefühlen eine größere Bandbreite zuzulegen. Dies würde bedeuten, dass wir besser zwischen unterschiedlichen Nuancen einer Emotion differenzieren können, was wiederum zu einer besseren bzw. erweiterten Handlungsfähigkeit führt.
Ein praktisches Beispiel ist die Einschätzung des eigenen Schmerzempfindens. Ist jemand dabei in der Lage, seine Schmerzen mit Worten – wichtig ist, auf unterschiedliche Begriffe zugreifen zu können – zu unterteilen in „Unbehagen“ bis zur „Verzweiflung“, dann kann das bei der Bewältigung der Schmerzsituation hilfreich sein. Vor allem in meditativen Zuständen können solche Unterscheidungen gut „geübt“ werden. Unsere Übungsempfehlung am Ende dieses Beitragsreihe baut darauf auf.
Im nächsten Teil kommen wir auf Spinoza zurück und beschreiben, welcher Stellenwert seinen Annahmen u.a. für das oben beschriebene zukommt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.