Gegenwärtig werden Stimmen laut (so die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt der Nachrichtenagentur AFP) , die verlangen, dass nach Überwindung der Coronakrise für die Arbeitnehmer ein Recht auf die Anwendung von Homeoffice – also dem Arbeiten zu Hause am Bildschirm im Gegensatz zur „analogen“ Büroarbeit – eingerichtet werden sollte.
Dieser angestrebten Entwicklung sollte mit äußerster Skepsis begegnet werden. Meines Erachtens werden hier wieder einmal grundlegende psychologische Erkenntnisse über den Haufen geworfen bzw. gar nicht erst in Betracht gezogen. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat die neuropsychologische Forschung enorm viel dazu beigetragen, das menschliche Verhalten und in diesem Zusammenhang vor allem die Untersuchung von Denkprozessen voranzutreiben. Fragen wie „Wie kommen Menschen zu Urteilen?“, „Wie zu Entscheidungen?“, „Wie beeinflussen Gefühle unser Handeln?“, „Welchen Denkfehlern unterliegen wir häufig?“, „Wie können wir rationales Handeln verbessern“ oder „Wie können wir Vorurteilen begegnen?“ sind hier relevant.
All diese Fragestellungen beziehen sich zunächst auf einen einzelnen Menschen; komplexer wird das Ganze aber, wenn wir uns die Kommunikation ZWISCHEN den Menschen anschauen. „Was passiert eigentlich genau im zwischenmenschlichen Kontakt?“, „Wie beinflussen wir uns gegenseitig?“, „Wie laufen Entscheidungsprozesse in einer Gruppe ab?“ Hier wird z.B. der Begriff der Homöostase wichtig, der beschreibt, wie sich ein System auf ein bestimmtes Ziel hin von selbst reguliert.
Dabei lautet die Kernaussage, dass zwischenmenschlicher Kontakt entscheidend für die Bildung von Beziehungen ist, und zwar dadurch, dass zwei ganzheitliche Systeme aufeinandertreffen und miteinander interagieren. Ein ganzheitliches Sytem wiederum ist nicht nur die Summe seiner Teile (also Fühlen, Denken, Handeln, Körperempfindung) sondern mehr als das: das Fühlen interagiert mit der Körperempfindung, die wiederum mit den Denkprozessen etc. etc., so dass sich ein Netzwerk von „Schaltkreisen“ bildet, das nun mit der Umwelt in Kontakt tritt. In diesem Moment verändern sich die einzelnen Netzwerke, indem sie sich gegenseitig beeinflussen.
Diese Form von Beziehungsbildung ist aber auf alle einzelnen Bestandteile des Netzes angewiesen, um dann vollständig handeln zu können. Wir brauchen dabei auch alle 5 Sinne (und oft den Sechsten). Die Sinneswahrnehmungen interagieren miteinander und geben uns die notwendige Rückmeldung, was wir fühlen, denken und schließlich wie wir handeln sollen. Dies gilt natürlich für alle an einer Beziehungsbildung beteiligten Personen gleichermaßen. Die hiermit verbundene Komplexität ist dann das, was wir als lebendigen Kontakt empfinden. Wenn wir diese Lebendigkeit (und Vollständigkeit) wollen, dann müssen wir auch „live“ aufeinandertreffen. Denn nur so ist gewährleistet, dass all die unterschiedlichen Informationen auch abgerufen werden können. „Wie fühle ich mich in der Begegnung?“, „Wie aufmerksam ist mein Gegegnüber?“ , „Kann ich ihn gut riechen?“, „Wie geht er mit den gegebenen Umgebungsbedingungen um?“, „Wie ist seine Mimik, Gestik, Bewegung?“. All diese Informationen werden von uns aufgenommen und verarbeitet. Wenn wir nun auf einige dieser Informationen bzw. Informationsebenen vollständig verzichten, dann reduzieren wir gleichzeitig die Komplexität und beeinflussen dadurch nachhaltig die Qualität des Ergebnisses. Das mag für ganz bestimmte Zwecke durchaus ausreichen. Aber für die meisten „Anwendungen“ sehe ich eine Live-Begegnung immer ganz weit vorn im Vergleich.