Bei der Beurteilung der Corona-Krise müssen oft Entscheidungen getroffen werden. Es erscheint hier folgerichtig, auf psychologisches Fachwissen zurückzugreifen, das als „Entscheidungstheorie“ bekannt ist. Leider ist es in der Realität aber so, dass solches Fachwissen – gerade wenn es um psychologische Inhalte geht – nur wenig berücksichtigt wird. Warum das so ist, ist eine andere Frage, die ich mir für später aufbewahre. Grundsätzlich geht es um die Erkenntnis, dass Menschen in ihrer Entscheidungsfindung oft spontan und unüberlegt handeln. Das ist aber der Normalzustand. Unser Gehirn sucht sich aus Energiespargründen erst einmal rein assoziativ den ersten Einfall aus. Das wäre auch nicht weiter schlimm (und ist sogar unter bestimmten Bedingungen, z.B. wenn man sich sehr schnell entscheiden muss weil man sich in einer akuten Gefahrensituation befindet) – wenn nicht die Vernunft dabei auf der Strecke bleiben würde. Um jedoch vernunftmäßig zu handeln, braucht es einen Akt der geistigen Anstrengung und der Einsicht, dass ich meine allererste, emotionale Reaktion besser zurückstelle. Nachdenken, vergleichen und logische Schlüsse ziehen ist also angesagt!
In der Bewältigung der aktuellen Krise können wir eine Menge an Beispielen finden, die das oben Gesagte illustrieren. Im Folgenden eines davon.
Es wird oft erwähnt, dass junge Menschen weniger einen schweren Verlauf der Infizierung zu fürchten haben als andere, ältere Menschen. Die erste Reaktion bei vielen ist der Gedanke „Dann muss ich ja nicht so aufpassen. Auch wenn ich mich anstecke, wird das schon nicht so schlimm. Und schließlich bin ich dann auch immun.“ Diese Reaktion beinhaltet zwei Denkfehler.
Beim ersten Denkfehler habe ich nicht berücksichtigt, dass ich nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit nicht ungeschoren davonkomme. Diese Wahrscheinlichkeit ist zwar weit weniger hoch als bei alten Menschen. Aber sie ist eben auch nicht Null. Der richtige Gedanke wäre also, sich zu überlegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sein darf, unter der ich gerade noch mein Verhalten weniger riskant ausübe, als jemand mit einer höheren Wahrscheinlichkeit. Wenn ich zu – sagen wir – 80 Prozent sicher bin, dass ich einen schweren Verlauf fürchten muss, darf ich mit einer Akzeptanz von 20 Prozent für den positiven Ausgang rechnen. Dies wäre für ältere Menschen der Fall. Bei jungen Menschen ist es umgekehrt: die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen nichts zustößt (dass sie nicht sterben werden) beträgt 80 Prozent. Jetzt – und erst jetzt! – muss ich mich entscheiden. Dabei ist aber noch ein zweiter, logischer Gedanke, der hinzukommt wichtig; Welchen Wert will ich meinem Überleben überhaupt geben? Sagen wir, jemand gibt dem Verlust all seiner Ersparnisse an der Börse auf einer Skala von 1 bis 10 (10 ist Katastrophe) einen Wert von 8. Er wird an der Börse anders handeln, als jemand, der einem möglichen Verlust nur einen Wert von 2 gibt (vielleicht weil er es sich eher leisten kann). Nun aber stellt sich die Frage, welchen Wert ich meinem Überleben nach einer Ansteckung mit Corona geben will? Die Antwort ist in der Frage enthalten. Nur Lebensmüde würden ihrem eigenen Überleben nur einen Wert von weniger als 10 geben. Fazit: Auch wenn ich nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit eine Infektion nicht überleben werde, entscheide ich mich trotzdem für den höchstmöglichen Schutz.
Der zweite Denkfehler im obigen Gedankengang liegt darin, dass ich die Infektionskette ignoriere. Wenn ich mich riskant verhalte – weil ja alles „nicht so schlimm“ werden wird – steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich für andere Menschen zum Virenverbreiter werde, der Ansteckungsgrad in der Bevölkerung sich also erhöht. Dies kann dann natürlich auch wieder auf mich selbst zurückfallen, da die Wahrscheinlichkeit einer Infektion durch mein Handeln insgesamt erhöht wird. Und dann lande ich wieder im Szenario 1. Ich brauche also überhaupt keinen ethisch-moralischen Grund, um mich solidarisch zu verhalten – es reicht der gesunde, egoistische Menschenverstand:
Nach ausführlicher und anstrengender Überlegung komme ich zu dem Schluss, dass größtmögliche Sicherheit auch für mich vernünftig und die richtige Entscheidung ist.