„Corona und die Tabuisierung des Generationenkonfliktes“

In die­sem Bei­trag möch­te ich die The­se auf­stel­len, dass es im Zusam­men­hang mit der Coro­na-Kri­se ein tabui­sier­tes The­ma gibt, wodurch eine kla­re­re Ein­schät­zung und auch Bewäl­ti­gung der Lage ver­hin­dert wird. Die­ses Tabu besteht in dem Ver­bot, sich über ethisch-mora­li­sche Kon­se­quen­zen in Bezug auf einen vor­lie­gen­den Gene­ra­tio­nen­kon­flikt offen aus­zu­tau­schen und auch mit allen gesell­schaft­lich rele­van­ten Grup­pen öffent­lich zu diskutieren. 

Hin­ter­grund ist, dass von Beginn des Auf­tre­tens der Coro­na-Kri­se klar war, dass bestimm­te Bevöl­ke­rungs­grup­pen („Risi­ko­grup­pen“) mehr von dem Virus gefähr­det wer­den als ande­re Grup­pen inner­halb der Popu­la­ti­on. Die Lager kön­nen grob in auf der einen Sei­te „Die Jun­gen und Gesun­den“ und auf der ande­ren Sei­te „Die Alten und Kran­ken“ ein­ge­teilt wer­den. Ich habe mit Absicht die­se sehr ver­ein­fach­te Ein­tei­lung gewählt, weil sich oft­mals durch eine gewis­se Zuspit­zung der Pro­ble­ma­tik schnel­ler ein Lösungs­an­satz fin­den lässt. 

Gleich zu Beginn der Betrach­tung die­ses ethisch-mora­li­schen Kon­flik­tes möch­te ich das Argu­ment aus­räu­men, das dar­in besteht, auf die Tat­sa­che hin­zu­wei­sen, dass auch jun­ge Men­schen an dem Virus ster­ben kön­nen. Das ist natür­lich unbe­strit­ten der Fall. Wahr ist aber auch, dass der Anteil der Jun­gen an der Gesamt­zahl der Ver­stor­be­nen erheb­lich gerin­ger ist als der der Alten. Die Sterb­lich­keits­kur­ve hat einen stei­len Anstieg bei einem Durch­schnitts­al­ter von unge­fähr 85. 86 Pro­zent der Gestor­be­nen sind 70 Jah­re oder älter. Vor dem Hin­ter­grund die­ser Dar­stel­lung ist es wich­tig zu ver­ste­hen, dass ein Zugrun­de­le­gen abso­lu­ter Zah­len nicht wei­ter­führt. Natür­lich kön­nen auch jun­ge Men­schen – auch qual­voll – ster­ben. Aber um dem Pro­blem näher­zu­kom­men, müs­sen wir die Wahr­schein­lich­kei­ten betrach­ten. Und hier ist eben die Wahr­schein­lich­keit, dass ich als jun­ger Mensch betrof­fen bin ungleich nied­ri­ger als dies für einen alten Men­schen der Fall ist. 

Um unse­re Über­le­gun­gen fort­zu­füh­ren brau­chen wir nun die Dar­stel­lung der mög­li­chen unter­schied­li­chen ethisch-mora­li­schen Nor­men bzw. Wert­vor­stel­lun­gen. Ich habe selbst die­se drei her­an­ge­zo­gen, wobei sich sicher auch noch wei­te­re fin­den wür­den. Die Logik der Argu­men­ta­ti­on wird dadurch aber nicht beeinflusst.

1. Eine Gesell­schaft han­delt dann ethisch-mora­lisch ein­wand­frei wenn sie sich in ers­ter Linie dar­an mes­sen lässt, wie sie mit ihren schwächs­ten Mit­glie­dern umgeht. 

2. Eine Gesell­schaft han­delt dann ethisch-mora­lisch ein­wand­frei, wenn sie alle ihre Mit­glie­der gleich behan­delt und auf die­ser Grund­la­ge für einen fai­ren Inter­es­sen­aus­gleich sorgt.

3. Eine Gesell­schaft han­delt dann ethisch-mora­lisch ein­wand­frei, wenn sie vom Prin­zip des Stär­ke­ren aus­geht, da dies am ehes­ten einem von vorn­her­ein fest­ge­leg­ten bio­lo­gi­schen bzw. evo­lu­ti­ons­be­ding­ten Prin­zip entspricht.

Momen­tan befin­den wir uns in unse­rer deut­schen (und ich wür­de sagen: auch der euro­päi­schen) Gesell­schaft eher bei The­se 1., mit einer mitt­ler­wei­le gewis­sen Ten­denz hin zu The­se 2. In der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft fin­den wir auch star­ke Strö­mun­gen, die The­se 3. nahe­le­gen. So wur­de z.B. vor­ge­schla­gen, alte Men­schen an die Kas­sen von Super­märk­ten zu set­zen, um jun­ge Men­schen vor einer Infek­ti­on zu schüt­zen. Lie­ber soll­ten doch die alten ster­ben, da sie ja sowie­so bald abtre­ten müss­ten. So eine Hal­tung wäre in unse­rer Kul­tur voll­kom­men undenkbar.

Wesent­lich in die­ser Ein­tei­lung ist nun, dass die sich aus den unter­schied­li­chen The­sen 1. und 2. erge­ben­den Kon­flik­te gar nicht oder wenn, dann nur sehr kurz und ober­fläch­lich in der Öffent­lich­keit dis­ku­tiert wer­den. Dies hat mei­nes Erach­tens tie­fe­re psy­cho­lo­gi­sche Grün­de, da sehr star­ke Emo­tio­nen mit ange­spro­chen wer­den. Über­haupt bemerkt man ja eine extre­me Emo­tio­na­li­sie­rung in der Aus­ein­an­der­set­zung (zu sehen regel­mä­ßig in den ein­schlä­gi­gen Dis­kus­si­ons­run­den im TV). Genau dies ist eben auch ein Hin­weis dar­auf, dass sich im Hin­ter­grund Kon­flik­te abspie­len, die momen­tan noch ver­drängt wer­den. Ver­drän­gung führt oft zu Gefüh­len wie Wut und Unge­duld und zu bes­ser­wis­se­ri­schem und into­le­ran­tem Ver­hal­ten. Wenn wir es nun bei einem Ver­drän­gungs­pro­zess um einen Grup­pen­pro­zess zu tun haben – von dem hier eine gan­ze Gesell­schaft betrof­fen ist – dann ent­steht auf Dau­er ein Tabu. Carl Gus­tav Jung spricht in die­sem Zusam­men­hang auch vom kol­lek­ti­ven Unbewussten.

Was nun ist der eigent­li­che Kern des pos­tu­lier­ten Tabus? 

Mei­ner Mei­nung nach besteht der Kern des Tabus dar­in, von einer Grup­pe gewis­se Opfer ein­zu­for­dern und die­se Opfer mit der eige­nen Opfer­be­reit­schaft zu ver­glei­chen. Das Tabu liegt also in einem Ver­gleich, der zwi­schen den Alters­grup­pen (den Gene­ra­tio­nen) gezo­gen wer­den könn­te. Eine Fra­ge, die sich in die­sem Zusam­men­hang stel­len wür­de ist, ob bei einer Bewer­tung der „Neben­wir­kun­gen“ der Kri­se (Arbeits­lo­sig­keit, Insol­ven­zen in der Wirt­schaft, psy­chi­sche Fol­ge­schä­den, usw.) die­se Kol­la­te­ral­schä­den – ein ande­rer mög­li­cher Begriff – als wich­ti­ger (oder bedeu­tungs­vol­ler) ein­ge­schätzt wer­den sol­len als das Lei­den der Betrof­fe­nen (qual­vol­ler Tod) oder deren Able­ben. Wenn wir tat­säch­lich ver­su­chen wür­den, die­sen tabui­sier­ten Ver­gleich NICHT zu machen, dann müss­ten wir uns aber trotz­dem irgend­wann fra­gen, bei wie viel Toten auf der einen und bei wie hohen Fol­ge­schä­den – z.B. auch durch eine erhöh­te Selbst­mord­ra­te auf­grund von Arbeits­lo­sig­keit oder per­sön­li­chem Ruin – auf der ande­ren Sei­te nicht DOCH ein Ver­gleich erlaubt sein muss. Letz­ten Endes kom­men wir um die­se Fra­ge nicht her­um, denn auch bei einer Impf­mög­lich­keit oder einem wirk­sa­men Medi­ka­ment wer­den ja trotz­dem wei­ter Men­schen an dem Virus sterben.

Mei­nes Erach­tens kann man die­sen Kon­flikt nur dadurch lösen, indem man öffent­lich unter Ein­be­zie­hung aller Betei­lig­ten die Fra­ge beant­wor­tet: „Wel­ches Opfer seid ihr bereit für die jeweils ande­re Sei­te zu erbrin­gen?“ Oder: „Ab wann soll sich die Sor­ge und das Küm­mern um die eine Sei­te zuguns­ten der ande­ren ändern, und wenn ja, wie genau?“ Schließ­lich kämen wir dann auch um eine grund­sätz­li­che Dis­kus­si­on unse­rer Wer­te in unse­rer Gemein­schaft nicht her­um. Auch nicht um die Fra­ge, wie wir zum The­ma „Tod“ ste­hen und wie das Leben sich auf den Tod bezie­hen soll und umge­kehrt, und in wel­chem Ver­hält­nis dies zu ande­ren Wer­ten ste­hen soll. 


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