Baruch de Spinoza hat eine logisch aufgebaute Theorie menschlicher Affekte, des Geistes (also des Denkens), der Körperempfindungen und des daraus resultierenden Handelns entwickelt. Diese logisch aufgebauten Thesen möchte ich heranziehen, um eine bessere Einsicht in die eigene, seelische Verfassung bzw. das eigene psychische Leiden zu ermöglichen.
Spinozas Theorie (Ethik) folgt dabei einem logischen Aufbau von Axiomen, Lehrsätzen und Beweisführungen. Unter einem Axiom versteht man dabei eine Grundvoraussetzung für die eigene Theorie, die aus sich selbst heraus existiert und selbst keiner Beweisführung unterliegt.
Ich werde die Leitsätze zunächst zitieren und sie dann auf ihren Gehalt ihrer Nützlichkeit für unseren Zweck – das heißt die Selbsterkenntnis vor dem Hintergrund des Wunsches, sich selbst zu helfen und sein Leiden zu verringern – untersuchen und verständlich machen.
Beginnen wir mit dem Kapitel:
Über die Macht der Erkenntnis, oder die menschliche Freiheit
Axiom I
Wenn in demselben Subjekt zwei entgegengesetzte Tätigkeiten angeregt werden, so wird notwendig entweder in beiden oder in einer allein eine Veränderung geschehen, bis sie aufhören, entgegengesetzt zu sein.
Diese grundlegende, vorausgesetzte Annahme ist für das Verständnis der eigenen Person (bzw. des eigenen Handelns) entscheidend. Sie beinhaltet die Erkennnis, dass alles Leiden immer auf die Anwesenheit von zwei entgegengesetzten Strebungen (oder Motiven, Wünschen, Bedürfnissen) zurückgeführt werden kann. Dies nennen wir auch einen Konflikt (bzw. inneren Konflikt). Dabei ist es zunächst unerheblich, was der Ursprung dieses Konfliktes ist, also ob er mehr mit dem Individuum selbst zu tun hat oder mit seiner sozialen Umgebung, oder (wie eigentlich immer) eine Mischung aus beiden ist.
Axiom I geht aber noch einen Schritt weiter, denn es beschreibt einen Prozeß des Organismus, diesen Zustand aufzulösen, um das damit verbundene Unwohlsein auflösen zu können. Spinoza sagt also auch, dass dies ein natürlicher Vorgang ist, der in der Natur des Menschen angelegt ist und einem Ziel folgt: nämlich scheinbar unvereinbare Gegensätze zu erkennen, aufzulösen und schließlich zu integrieren.
Übung
Versetzen Sie sich bitte wieder in einer meditativen Entspanntheitszustand (so gut dies geht) und denken Sie dann an Ihr „Problem“ (oder Unglück, oder Schmerz, oder Unwohlsein). Beobachten Sie Ihre Gedanken und versuchen Sie die Position eines neutralen Beobachters einzunehmen. Untersuchen Sie dann die „Zutaten“ Ihres Problems: wie fühlt es sich an, wann tritt es auf, wie verändert es sich, welche Konsequenzen hat es usw.. Nun machen Sie sich klar, dass Ihr Leiden Ausdruck eines Konfliktes ist. Sagen Sie sich z.B.: „Mein Schmerz (meine Angst, meine Depression) ist nicht nur in mir als ein Fremdkörper, sondern ist Ausdruck eines inneren oder äußeren (oder beides) Konfliktes. Diesen Konflikt kann ich versuchen zu beschreiben, indem ich mir vorstelle, welche entgegengesetzten Wünsche damit verbunden sind.“
Machen Sie sich dann deutlich klar, welches diese entgegengesetzten Wünsche sein könnten (z.B. der „Wunsch nach Nähe und der Wunsch nach Unabhängigkeit“ oder „der Wunsch zu gehen und der Wunsch zu bleiben“ oder „der Wunsch nach Versöhnung und der Wunsch nach Rache“). Wenn Ihnen dies nicht sogleich gelingt oder für Sie sogar unangenehm wird, so ist das normal, denn es gibt einen natürlichen Widerstand gegen den angestrebten Erkenntnisgewinn. Das sollten Sie sich also nicht vorhalten.
Vielmehr können Sie die Übung sogar noch erweitern, indem Sie sich den zweiten, von Spinoza gemeinten Aspekt vor Augen halten: Loben Sie sich dafür, dass Sie überhaupt begonnen haben, sich mit einer neuen Sichtweise zu konfrontieren, und erkennen Sie, dass Sie damit dem natürlichen Prozeß der Lösung der Gegensätze schon allein durch das Üben einen Schritt näher gekommen sind.