Die romantische Liebe zwischen André Breton und einer schönen Unbekannten beginnt. Wir setzen unser Experiment einer Illustration seines Romans „L’Amour Fou“ hiermit fort.
Inhaltsverzeichnis
- 1 In Erwartung einer Frau – ihr Kommen oder ihr Nichtkommen
- 2 Das surreale Zusammentreffen von Ereignissen
- 3 Eine romantische Liebe: Die Begegnung und der erste Spaziergang
- 4 Der morgige Tag am Turm Saint-Jacques
- 5 Am Quai des Fleurs
- 6 Eine romantische Liebe: Das Gedicht „Tournesol“
- 7 Die Entdeckung
In Erwartung einer Frau – ihr Kommen oder ihr Nichtkommen
Breton greift wie viele seiner Zeitgenossen auf das Magische zurück; er versucht, das Unerwartete vorauszusehen, ja geradezu herbeizurufen. Der Zufall ist auch immer ein Ausdruck seines eigenen Unbewussten. Wie geht man mit einer enttäuschten Erwartung um?
„An anderen Tagen, an denen ich wusste, daß die Abwesenheit, die Ferne unüberwindlich waren, wurden die Karten befragt, ganz wider die Regeln, doch nach einem persönlichen unveränderlichen und ziemlich genauen Code, , um derart für die Gegenwart, für die Zukunft Heil und Unheil klarer zu erkennen.“
„Bei der Befragungsart, die ich damals bevorzugte und der auch heute noch meine Vorliebe gilt, werden die Karten von vornherein im Kreuz ausgelegt (in der Mitte, was befragt wird: ich, sie, die Liebe, die Gefahr, der Tod, das Geheimnis, oben, was in der Schwebe, rechts, was gewiß ist, links, was schreckt und schadet, unten, was überwunden ist). Die Ungeduld bewirkte, daß ich angesichts allzu vieler ausweichender Antworten sehr bald dazu griff, in die Mitte dieser Figur einen sehr persönlichen Gegenstand … zu placieren, der mir bessere Ergebnisse herbeizuführen schien …“
„Unter voller Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und ob ich auch ein wenig zögere, ein solches Zeugnis vorzubringen, stehe ich doch nicht an, zu erklären, daß, mit Hilfe der Karten, dieser letztgenannte Gegenstand mich nie von etwas anderem als von mir unterhalten, daß er mich stets auf den entscheidenden Punkt meines Lebens zurückgeführt hat.“
Das surreale Zusammentreffen von Ereignissen
Kennen wir nicht alle dieses Gefühl oder erleben wir manchmal eine Ahnung von Ereignissen, die zueinander in einem Verhältnis zu stehen scheinen, die aufeinander verweisen und „irgendwie zusammenpassen“? So ergeht es Breton am 10. April 1934.
„Am 10. April 1934, bei voller Bedeckung der Venus durch den Mond …, aß ich in einem kleinen Restaurant zu Mittag.“
„Die Bedienerin ist recht hübsch: poetisch vielmehr. Am 10. April vormittags trug sie über einem weißen Kragen mit weitverteilten roten Tupfen, der vorzüglich zu ihrem schwarzen Kleid paßte, eine sehr dünne Kette, an der drei helle Tropfen wie von Mondstein hingen, unter denen sich ein ebenfalls gefaßter Halbmond aus dem gleichen Stein abzeichnete. Ich würdigte wieder einmal, unendlich, das Zusammentreffen dieses Schmuckstücks und der erwähnten Verfinsterung.“
Eine romantische Liebe: Die Begegnung und der erste Spaziergang
Nachdem Breton der schönen Unbekannten zunächst in einem Café begegnet war, treffen sich die beiden nun zu einem ersten Spaziergang. Eine romantische Liebe nimmt ihren Verlauf.
„Wer begleitet mich zu dieser Stunde durch Paris, ohne mich zu geleiten, und dem auch ich kein Leiter bin? Ich kann mich nicht erinnern, je im Leben eine solche Ohnmacht empfunden zu haben. Fast verliere ich mich aus den Augen, mir ist, als wäre auch ich fortgespült worden wie die Statisten der ersten Szene. Die Unterhaltung, die, solange meine allzu schöne Partnerin vor mir saß, ohne zu stocken von einem Gegenstand zum andern überging, streift jetzt nur noch die Maske der Dinge. Mit Entsetzen merke ich, daß ich das Gespräch wieder Willen dahin lenke, wo es im Künstlichen versandet.“
Der morgige Tag am Turm Saint-Jacques
Eine romantische Liebe ist zu Beginn von unterschiedlichen Ängsten heimgesucht. Gedanken über einen frühzeitigen Rückzug stellen sich ein.
„Der morgige Tag bleibt Bestimmungen unterworfen, die man wohl oder übel anerkannt hat, ohne diese reizenden Locken zu bedenken, und diese Knöchel, die wie Locken sind. Noch wäre es Zeit, den Rückzug anzutreten.“
„Welche Warnvorrichtung wird je geeignet sein, die Stimme der Unvernunft – dem Sprachgebrauch nach, den man mich gelehrt hat – laut genug zu erheben, und zu behaupten, daß der morgige Tag ein anderer sein wird, daß er sich auf geheimnisvolle Weise ganz und gar von allem Gestern losgerissen hat? Wieder war ich neben dir, meine wandernde Schöne, und im Vorübergehn zeigtest du auf den Turm Saint-Jacques … Du wusstest wohl, daß ich diesen Turm liebte, aber mir war in jenem Augenblick, ich sähe ein ganzes wildes Leben sich um ihn versammeln, als wollte es uns in seine Kreise ziehn, uns mitreißen in den wolkenhaft wirbelnden Galopp um uns:
A Paris la Tour Saint-Jacques chancelante
Pareille à un tournesol
„Ich überlasse mich dem wunderbaren Taumel, zu dem vielleicht diese Stätten mich verführen, an denen alles begonnen hat, was ich am besten gekannt haben werde.“
„Die Schatten trennen sich! Furchtlos will ich mich führen lassen, dem Licht zu! Tourne, sol… Dreh dich, Erde unter meinen Füßen, und du, große Nacht, vertreibe aus meinem Herzen alles, was nicht der Glaube an meinen neuen Stern ist!“
Am Quai des Fleurs
Die romantische Liebe lebt von Anzeichen einer überhöhten Idealisierung. Ist es wirklich diejenige, die dem Sehnen einen Ausweg bietet?
„Nie mehr vielleicht wird der günstige Wind sich legen, der uns dahinträgt, denn von nun an haucht er Wohlgerüche, als stiegen Gärten in Terrassen über uns auf. In der Tat sind wir auf dem Quai des Fleurs angelangt,…“
„All die Blumen, selbst die unscheinbarsten unseres Landstrichs, vereinigen nach Lust ihre Kraft, um mir die ganze Jugend des Gefühls einzuhauchen. Klarer Brunnen, wo alles Verlangen, ein neues Wesen mitzureißen, sich spiegelt und tränkt, alles Verlangen, zu zweien, weil dies noch niemals gelang, den Weg wiederaufzunehmen, den man am Ausgang der Kindheit verloren hatte und der, die noch Unbekannte, die Künftige umduftend, zwischen den Wiesen hinlief. Bist du endlich diejenige, war deine Ankunft aufgeschoben bis heute?“
„Während man, wie im Traume, immer andere Beete vor uns hinbreitet, beugst du dich lange über diese verschatteten Blumen, als wolltest du weniger ihren Duft einziehen als ihnen ihr Geheimnis rauben, und eine solche Gebärde ist, für sich allein, die ergreifendste Antwort, die du auf diese Frage geben könntest, die ich dir nicht stelle.“
„Hier nimmt alles einen neuen Anfang, hier melden sich – und Schweigen ist geboten – zu viele Gründe, alle Zeiten des Verbums „sein“ in dem Bericht zu verwenden. Eines Tages wahrscheinlich werde ich mich dazu bereitfinden, wenn es darum geht, wie ich vorhabe, zu erweisen, daß die wahre Liebe keiner nennenswerten Veränderung in der zeit unterworfen ist. Nur die mehr oder minder resignierte Anpassung an die augenblicklichen sozialen Verhältnisse bewirkt, daß wir uns bereitfinden, in der Phantasmagorie der Liebe eine Folge der unvollkommenen Kenntnis zu sehen, die wir von dem geliebten Wesen besitzen, womit zugleich gesagt sein soll, daß dieser Traum entschwinde, sobald jenes Wesen sich uns nicht mehr entzieht.“
„Dieser Glaube an den in solchen Fällen baldigen Abfall des Geistes in allem, was die Tätigkeit seiner höchsten und seltensten Kräfte betrifft, geht freilich meist auf Rechnung eines atavistischen Rückstands seiner religiösen Erziehung, die darüber wacht, daß der Mensch stets bereit sei, den Besitz der Wahrheit und des Glückes hinauszuschieben, und die jedes verlangen nach einer integralen Erfüllung seiner Wünsche auf ein trügerisches Jenseits vertröstet, das sich übrigens, nach näherer Erkundigung, wie man sehr gut gesagt hat, als ein verkümmertes Diesseits erweist.“
Eine romantische Liebe: Das Gedicht „Tournesol“
„Es handelt sich, im vorliegenden Fall, um ein automatisches Gedicht: ganz ein erster Wurf oder doch annähernd das, was 1923 dafür gelten konnte, als ich es in dem Band „Clair de Terre“ aufnahm. So viel ich auch daran auszusetzen fand, so sehr ich es auch nachträglich insgeheim vielleicht verleugnet hatte, so sehe ich doch keine Möglichkeit, von den unwillkürlichen, abgerissenen Zitaten, die mir plötzlich daraus einfielen, anders zu sprechen als von jenen Sätzen im Einschlafen, von denen ich mich 1924 bewogen fühlte, in dem „Manifest des Surrealismus“ zu sagen, daß sie „an die Scheibe pochten“.
„So sah ich mich denn, wenn auch erst gegen Abend, veranlasst, in einem meiner Bücher jene Seiten aufzuschlagen, wo sie, wie ich wusste, zu finden waren. Dieses Zugeständnis an alles, was ich bis dahin nicht wissen wollte, wurde zu einer ununterbrochenen Kette blitzartiger Entdeckungen:
[Sie finden das Gedicht „Tournesol“ im linken Bereich neben dem Haupttext in französischer Sprache und in deutscher Übersetzung]
Die Entdeckung
Breton entdeckt beim nachträglichen Lesen seines eigenen Gedichtes, das er 1923 geschrieben hat, ein mysteriöses Zusammentreffen mit den Ereignissen zehn Jahre später, als er die junge Frau, um die es hier geht, kennenlernt:
„La voyageuse marchant sur la pointe des pieds: Es ist unmöglich, in dieser Reisenden nicht meine in jenem Augenblick sehr schweigsame Begleiterin vom 29. Mai 1934 wiederzuerkennen.“
„Le désespoir: Etwas unsicher fühle ich mich angesichts der sexuellen Bedeutung … der Handtasche, die, obwohl sie sich hinter Wahnvorstellungen der Größe – die Sterne, die „Gevatterin Gotte (?) – versteckt, nichtsdestoweniger offen zutage liegt.“
„Le Chien qui fume: Das war für mich der typische Name eines jener Restaurants der Markthallen, von dem schon die Rede war.“
„Was bis zu jenem Tage mit mir geschehen war, wehrte sich – ich glaube dies genügend verdeutlicht zu haben – gegen das, was noch geschehen konnte. Die Bequemlichkeiten des nächsten Tages, so wie er im voraus festgelegt war, der Wunsch, ich möchte nicht genötigt sein, das untadelige Wesen zu kränken, das mein Leben damals mit mir teilte, dazu dieser neue Reiz, die unwiderstehliche Anziehung der ich erlag (le pour et le contre) – dies alles hielt mich in einem qualvollen Zustand der Unentschlossenheit fest.“
„Le bal des innocents: Wir nähern uns ganz offensichtlich dem Turm Saint-Jacques. Der ehemalige Kirchhof, der später in einen Markt umgewandelt wurde und an den eigentlich nur noch der Brunnen in der Mitte des gleichnamigen Platzes (Square des Innocents) erinnert, mit den Najaden von Jean Goujon … dient hier dazu, Nicolas Flamel einzuführen, der dort am Ausgang des vierzehnten Jahrhunderts den berühmten Schwibbogen mit seinen Initialen errichten ließ (auf diesem Bogen hatte er bekanntlich einen ganz schwarzen Mann malen lassen, der einer goldenen Tafel zugewandt war, auf welcher Venus oder Merkur sowie eine Sonnen- und Mondfinsternis dargestellt waren; dieser Mann hielt in seiner ausgestreckten Hand eine Rolle mit der Inschrift: Je vois merveille dont moult mèsbahis - (Ein Wunder schau ich, das mich hoch erstaunt).
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Der dritte Teil folgt in Kürze. Hier lesen Sie mehr zum Thema „Liebe, Liebesfähigkeit, Angst und Sexualität“