Isabel zu Pierre in Melvilles Roman „Pierre oder die Doppeldeutigkeiten“
Es ist nur so, wenn Menschen sich weigern, das Ungewöhnliche in manchen Personen anzuerkennen und auch die Umstände, die sie umgeben, dass dann falsche Vorstellungen genährt werden, und ihre Gefühle verletzt wurden.
(It is only when people refuse to admit the uncommonness of some persons and the circumstances surrounding them, that erroneous conceits are nourished, and their feelings pained.) *
Es ist wichtig sich klar zu machen, dass Vorurteile und negative Gefühle, die bis zum Hass ausarten können, immer mit der Angst zu tun haben, dem Anderen zu begegnen. Der Andere ist der Fremde, aber auch gleichzeitig der, der die eigene Gewöhnlichkeit droht zu demaskieren. Die Angst ist also eine doppelte: einmal davor, sich selbst und andererseits dem Fremden zu nahe zu kommen.
Das eigentlich Paradoxe daran ist, dass man zur selben Zeit, wo man sich fürchtet, auch den tiefen Wunsch hegt, vom Anderen gesehen zu werden. Denn das abgelehnte Gegenüber ist ja auch immer jemand, der mich selbst vor der eigenen Gewöhnlichkeit retten könnte, um zum Sehnsuchtsort: der Ungewöhnlichkeit, durchzudringen.
Doch der Ängstliche ist hin- und hergerissen, er fühlt sich abgestoßen und gleichzeitig hingezogen. Diese Ambivalenz bereitet ihm großes Unbehagen. Ein Effekt, der sich hieraus entwickelt, ist dann die anfangs erwähnte Wut; diese legt sich gleichsam wie eine Rüstung um die eigene Angst. Sie schützt und führt zu einer vermeintlichen Überlegenheit. Wenn diese Überlegenheit sich mit der Gruppe, der man angehört – weil alle ähnliche Ängste hegen – verbindet, dann kann der Wunsch zur Vernichtung des Fremden entstehen.
Empathie, d.h. Verständnis oder Mitgefühl, können sich nicht mehr herausbilden, die ganze Schattenseite der menschlichen Existenz gewinnt die Oberhand, wobei Schuld- und Schamgefühle noch weiter nach Verdrängung rufen. Jedem Menschen kann so etwas passieren. Denn wenn unsere Gefühle verletzt wurden – so wie Melville es Isabel zu Pierre sagen lässt – dann zahlt man Gleiches mit Gleichem heim. Derjenige, der gekränkt wurde, wird das Gleiche anderen antun, wenn er diese Dynamik nicht durchschaut, um sich von der ewigen Wiederholung zu befreien. Auch das ist möglich.
Hier finden Sie eine Übung zur Selbsthilfe, unser Anti-Stresstraining bei „Angst vor Negativem“ mit ausführlicher Anleitung und fertigen Übungsbögen.
* Herman Melville, „Pierre: or, The Ambiguities“, 1852: S. 202