In diesem dritten Teil unseres Experimentes, den Roman „L’Amour Fou“ von André Breton mit Hilfe einer KI zu illustrieren, steigen wir in der Beschreibung des Gedichts „Tournesol“ wieder ein. Sie finden dieses Gedicht – auch in deutscher Übersetzung – im linken Blogabschnitt dieses Beitrages. Zur Erinnerung: Breton war nach einer Begegnung mit einer schönen Unbekannten auf ein von ihm 10 Jahre zuvor geschriebenes Gedicht – das mit „automatisiertem Schreiben entstanden ist – gestoßen und hatte an vielen Stellen seltsame und bedeutungsvolle Parallelen mit ebendieser Frau in seinem Roman hervorgehoben. Dieser Vorgehensweise schließen wir uns an und folgen damit auch seiner eigenen Vorstellung, Phantasien und reale Ereignisse mit Hilfe von Fotografien oder Gegenständen zu kommentieren.
Inhaltsverzeichnis
- 1 André Breton – Küsse und Verführung
- 2 Der Name einer Straße und ein hervorgerufenes Gefühl
- 3 Brieftauben und die Post
- 4 André Breton: Seine Unbekannte entpuppt sich als Tänzerin Quatorze Juilett
- 5 Blumenmarkt in Paris
- 6 Eifersucht – Die Frauen von André Breton
- 7 „Tournesol“ – ein prophetisches Gedicht
- 8 „Die Grille erhebt ihre Stimme, um all meine Zweifel zu zerstreuen.“
André Breton – Küsse und Verführung
„Les baisers de secours: Wie sehr diese Küsse hier auch den Brieftauben angeglichen sind, so bezeugen sie doch, auf die unverhüllteste Weise, die von mir empfundene Nötigung zu einer Gebärde, deren ich mich dennoch enthalte, eine Nötigung, die mit erwähnten wiederholten Stehenbleiben auf der Straße zusammenhängt. Die Küsse befinden sich nichtsdestoweniger im Bereich des Möglichen infolge ihrer Stellung zwischen den Brieftauben (Vorstellung einer mir gewogenen Person) und den Brüsten, von denen ich gegen Ende meines Berichtes gestehen mußte, daß sie mir jeden Mut zur Entsagung raubten.“
Der Name einer Straße und ein hervorgerufenes Gefühl
„Rue Gît-le-Cœur: Auch jeder Kommentar zu dem Namen dieser Straße erübrigt sich, der in einem starken Kontrast zu dem Gefühl steht, das sich in dem folgenden Vers so rückhaltlos bekennt.“
Brieftauben und die Post
„Les pigeons voyageurs: Durch ihren Vetter, mit dem ich früher einmal im Gedankenaustausch stand, hatte sie, wie sie mir gestand, zum erstenmal von mir sprechen hören; er hatte sie nach meinen Büchern begierig gemacht, und diese wiederum hatten den Wunsch in ihr erregt, meine Bekanntschaft zu machen. Dieser junge Mann aber leistete damals gerade seinen Militärdienst ab, und einige Tage zuvor hatte ich einen Brief aus Sfax erhalten, der den Stempel des Centre colombophile (deutsch: Taubenzucht-Zentrum) trug, zu dem er abkommandiert war.“
André Breton: Seine Unbekannte entpuppt sich als Tänzerin Quatorze Juilett
„Les lampions: Erst einige Wochen nach unserer Begegnung erfuhr ich, daß der Direktor des music-hall, wo meine Gefährtin in dieser ersten Nacht auftrat, sie eines Tages öffentlich Quatorze Juillet genannt hatte und daß sie diesen Spitznamen an jenem Unternehmen behalten hatte.“
„Es wird dem Leser nicht entgangen sein, wie ich bei meiner ersten Annäherung das Licht der Kastanien mit ihrem Haar in Verbindung brachte.“
Blumenmarkt in Paris
„Une ferme en plein Paris: Alles Ländliche bricht in diesem Augenblick in das Gedicht ein, als natürliche Lösung dessen, was bis dahin nur ein dunkler Wunsch war. Selbst noch die Vorstellung der Landwirtschaft, die in dem Wort ferme enthalten ist, fand eine Rechtfertigung bei dem Anblick, den um diese nächtliche Stunde für einen flüchtigen Augenblick der Marché auc Fleurs bietet.“
Eifersucht – Die Frauen von André Breton
„Les survenants (im Gegensatz zu den revenants): Die Ängste, die sich in dem Gedicht von dem Auftreten dieses Wortes an bekunden (seine unmittelbare Wiederholung, der bald darauf folgende Lapsus, auf den bereits hingewiesen wurde), scheinen mir von der Erregung auszugehen, die sich der Frau bemächtigte, die damals mein Leben teilte, als sie von dieser Begegnung erfuhr und befürchtete, ich könnte die Gesellschaft einer neuen Frau suchen (während sie es duldete, daß ich eine andere Frau, der ich eine große Anhänglichkeit bewahrte, wiederzusehen wünschte).“
War es Leona Delcourt, die die Partnerin von André Breton war in der Zeit, als diese Begebenheiten sich ereignet haben? Wahrscheinlich nicht, denn 1928 wurde Delcourt in die Psychiatrie eingeliefert. Breton hat sie nie besucht. Sie war jedenfalls die Frau, die hinter der Figur der „Nadja“ stand, dem wohl berühmtesten Roman von Breton. Wer nun aber die Frau war, auf die sich Breton bezieht („die damals mein Leben teilte“) konnte ich nicht ermitteln bzw. recherchieren. Und welche Person steckt hinter der schönen Unbekannten, um die es hier in dem Gedicht geht? Es ist Jacqueline Lamba, eine vergessene Künstlerin. Am 14. August 1934 hat Breton sie geheiratet.
„Tournesol“ – ein prophetisches Gedicht
„L’air de nager: Auch sehr viel später noch, nachdem ich mich in der Gewißheit bestärkt hatte, daß hinsichtlich aller übrigen Stellen das Gedicht „Tournesol“ als ein prophetisches Gedicht anzusehen sei, hatte ich mich bemerkenswerterweise vergeblich bemüht, diese wunderliche Beobachtung aufzulösen;…“
„Ich weiß nicht, was schuld war, daß der wahre, der völlig andere Inhalt, die ganz unmittelbare Bedeutung dieser Worte mir so lange verborgen blieb: die „Nummer“ des music-hall, in dem die junge Frau damals täglich auftrat, bestand in einem Schwimmakt. Eben in dem Maße, als l’air de nager für mich mit dem l’air de danser einer schreitenden Frau nicht übereinstimmte, scheint es hier jenen Unter-Wasser-Tanz zu bezeichnen, den diejenigen meiner Freunde, welche sie wie ich in der Folge in dem gläsernen Schwimmbecken erblickten, sie ausführen sahen.“
„Die Grille erhebt ihre Stimme, um all meine Zweifel zu zerstreuen.“
„Le grillon: Wenige Tage später geschah es, daß ich in Paris zum erstenmal eine Grille singen hörte; und zwar eben in dem Zimmer, das der inspirierende Geist jener Frühlingsnacht, die ich erzählt habe, bewohnte. Das Fenster dieses Zimmers, in einem Hotel der Rue du Faubourg-Saint-Jacques ging auf den Hof der Maternité hinaus, wo das Insekt sich versteckt hielt. Es fuhr dann fort, sich in der Folge fast jeden Abend bemerkbar zu machen.“
„Jedenfalls ist es nicht zu übersehen, daß die Grille, im Gedicht wie im Leben, ihre Stimme erhebt, um all meinen Zweifel zu zerstreuen.“
Hiermit schließt die eigene Interpretation seines Gedichtes „Tournesol“ ab. Breton meint zum Schluss:
„Der Leser möge zurückblättern, bis zu dieser beschwingten und rätselhaften Szene, deren Wert von jenen Worten bestimmt wurde, die nicht weniger befehlend klangen als die der Grille in dem Gedicht: „Ici, l’Ondine!“ Alles verläuft so, als ob die einzige leibhaftige Najade, die einzige Undine in Fleisch und Blut dieser Geschichte – ganz im Unterschied zu der Angerufenen, die sich unterdessen anschickte, das Lokal zu verlassen – gar nicht umhingekonnt hätte, diesem Anruf Folge zu leisten, und als weiterer Beweis dessen sei noch erwähnt, daß sie um jene Zeit in dem Hause, das dem erwähnten Restaurant, Avenue Rachel, genau gegenüberliegt, eine Wohnung zu mieten versuchte.“
„Am folgenden 14. August wurde die allmächtige Veranstalterin der nuit tournesol meine Frau.“